Sprachforschung: Über den Ursprung der Sprache

Sprachforschung: Über den Ursprung der Sprache
Sprachforschung: Über den Ursprung der Sprache
 
Kurze Zeit nur, nachdem 1770 in Straßburg der Jurastudent Goethe mit dem Dichter und Theologen Johann Gottfried Herder Freundschaft geschlossen hatte, vertraute dieser Goethe an, »dass er sich um den Preis, welcher auf die beste Schrift über den Ursprung der Sprachen von Berlin ausgesetzt war, zu bewerben gedenke«. Dieses Thema war Goethe fremd, und die Frage nach dem Ursprung der Sprache schien ihm müßig. Der junge Herder aber stand den philosophischen Fragen seiner Epoche aufgeschlossener gegenüber.
 
Zwar ist das Problem der Sprache so alt wie die Philosophie selbst, aber vor Herder trat der Wortzusammenhang von Philosophie und Sprache im Deutschen nicht auf. Die besondere Beschäftigung mit der Sprachphilosophie stammt aus der französischen Aufklärung um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ihr Interesse wurde unterstützt von der Berliner Akademie der Wissenschaften. Der damalige Präsident Pierre Louis Moreau de Maupertuis hatte 1748 mit einer Schrift über den Ursprung der Sprachen und die Bedeutung der Wörter die Diskussion eröffnet. Er folgte in seiner These dem zwei Jahre zuvor erschienenen Buch »Versuch über den Ursprung der menschlichen Kenntnis« von Étienne Bonnot de Condillac. Dieser sah in der Erfindung der Sprache die Spuren der ersten Schritte des menschlichen Geistes. In der Denkweise des sich ausbildenden Sensualismus untersuchten diese Autoren die Abhängigkeit der menschlichen Erkenntnis von den Sinneseindrücken sowie von der Verwendung von Zeichen und Sprache. Verschiedene Beiträge zur Sprachdiskussion wurden in der Berliner Akademie verlesen, bis die Preisfrage über den Schritt vom Sinneseindruck, der noch nicht Erkenntnis ist, zur symbolischen und damit rationalen, sprachlich verfassten Erkenntnis Klarheit versprach.
 
Herders Schrift »Über den Ursprung der Sprache« wurde von der Berliner Akademie der Wissenschaften preisgekrönt. Und es beeindruckte Goethe dann doch, wie Herder dem Berliner Konsistorialrat Johann Peter Süßmilch, der die erste Sprache als Gabe des Schöpfers ansah, polemisch entgegnete: Der Mensch als Mensch könne aus eigenen Kräften zur Sprache gelangen.
 
Herders Sprachphilosophie bildete einen Grundstein seiner epochalen geschichtsphilosophischen Betrachtungen, in denen er eine natürliche Entwicklung der Erde, der Pflanzen, der Tiere und des Menschen als gestuften Prozess vom mechanischen über das instinktive zum geistigen Leben hin beschrieb. Die These von der Entstehung der Sprache als Nachahmung tierischer Laute, wie sie von den französischen Sensualisten vertreten wurde, lehnte Herder ebenso ab wie die orthodox-theologische Erklärung. Zwar habe auch der Tierlaut etwas Sprachartiges, und »in allen Sprachen des Ursprungs tönen noch Reste dieser Naturtöne«, setzte Herder dem Sensualismus hinzu, »nur freilich sind sie nicht die Hauptfäden der menschlichen Sprache«. Das Theologische blieb in Herders sprachanalytischen Schriften auf wenige Elemente einer Wortmystik beschränkt, die sich auch in der Vorstellung der Sprachartigkeit des Gedankens äußern. Die Diesseitigkeit der Preisschrift »Über den Ursprung der Sprache« entsprach dem Geist der Aufklärung.
 
Stiefmutter Natur habe den Menschen zwar mangelhaft an die Umwelt angepasst, doch die qualitativ neue Stufe seiner Lautgebung entschädige ihn wieder für jene Mängel. Vorerst kompensierten wenig entwickelte Sprachformen bloß den Instinktverlust, wie Herder im ersten seiner vier »Hauptgesetze der Natur«, die er auch »Naturgesetze« nannte, nahe legt. Ein zweites »Naturgesetz« beschreibt die gesellschaftlich bedingte Fortbildung einer Sprache, in der Familie, dann in größeren Einheiten. Ein drittes Naturgesetz bestimmt Herder zufolge das Heranreifen der Familiensprache zu Nationalsprachen, wobei klimatische Bedingungen und spezifische Lebensgewohnheiten zur Geltung kommen. Mit seinem vierten Gesetz stellte Herder die Verbindung zwischen dem Ursprung der Sprache und der lebendigen Entwicklung der Menschheit her. »So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das menschliche Geschlecht«, lautet dieses Naturgesetz, »ein progressives Ganze von einem Ursprunge in einer großen Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung«. Herder hatte die bisher rationalistisch orientierte Sprachphilosophie in eine organische Form überführt und damit der Romantik sowie späteren Generationen Hinweise auf das lebendige Element der Poesie gegeben. Dichtungen der Völker sind die lebendige Welt ihrer Gedanken. Sprache war für Herder der »Unterscheidungscharakter unserer Gattung von außen«, so »wie es die Vernunft von innen ist«. Die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung der Sprache habe zu berücksichtigen, dass »in mehr als einer Sprache. .. Wort und Vernunft, Begriff und Wort, Sprache und Ursache einen Namen« aufzeige.
 
Die ganze Sprache als einen Organismus zu betrachten, trat in ausgeprägter Gestalt bei Wilhelm von Humboldt in Erscheinung, bevor sich unter dem Einfluss von Friedrich und August Wilhelm Schlegel sowie Jacob Grimm der Komparativismus, die vergleichende Sprach- und Mythenforschung, durchsetzte. Humboldts Sprachkunde wollte Hermeneutik der Sprache sein, nicht aber Wissenschaft von der Sprache wie die vergleichende Sprachwissenschaft. Humboldt, der die ersten wirklich umfassenden empirischen Sprachstudien durchführte, vermied wie Herder ein naturalistisches Sprachverständnis, indem er Sprache als eine weltkonstituierende Aktivität verstand. Er behandelte Sprache als ein inneres »Organ« des Menschen; die Sprache ist für ihn das Organ der Unterscheidung des äußeren Seins der Gegenstände sowie des inneren Seins des Ich. In einem Brief vom September 1800 an Schiller teilte Humboldt erstmals seine These von der ursprünglichen Vermittlung zwischen Ich und Welt durch die Sprache mit. In verschiedenen Abhandlungen, die zumeist im Rahmen der Berliner Akademie in den Jahren 1820 bis 1829 erschienen, bildete er diesen Gedanken systematisch aus. Er schuf, wenige Jahre vor seinem Tod, ein dreibändiges Werk »Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java«. Demnach existiert der Mensch nur aufgrund seiner Sprache, und die Welt erfasst er nur, insofern diese sprachlich verfasst ist.
 
Für Humboldt gründete alles Sprechen auf der Wechselrede. Mit seinem Begriff der Geselligkeit baute er eine Brücke vom Individuum zur Gesellschaft und ließ alle Erkenntnis aus der dialogischen Natur der Sprache folgen. »Sprache muss notwendig zweien angehören, und gehört in der Tat dem ganzen Menschengeschlecht an«, schreibt Humboldt in seiner Abhandlung »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues«. Im Ganzen ist die »Sprache das bildende Organ des Gedanken«. »In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich«. Schließlich ist im Menschen »das Denken wesentlich an gesellschaftliches Dasein gebunden, und der Mensch bedarf. .. zum bloßen Denken eines dem Ich entsprechendes Du. .. Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft«. Ein empirisch zu denkender Ursprung der Sprache wurde damit gegenstandslos, weil Bewusstsein und Sprache immer gleichzeitig in Erscheinung treten. Unter den wenigen Formeln, die Humboldt in seiner Sprachtheorie verwandte, gehört seine berühmte Definition der Sprache als »Energeia«: »Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes.. .. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia).« Sprache ist nicht bloß eine Möglichkeit, eine Fähigkeit, sie ist Handeln, Akt - Sprechakt; aus dem Sprechen erzeugt sich Sprache.
 
Im Zuge der linguistischen Wende der Philosophie im 20. Jahrhundert hat Humboldts Sprachphilosophie wieder an Bedeutung gewonnen. Zwar verdankt die sprachanalytische Philosophie ihren Ursprung dem logischen Positivismus des Wiener Kreises, doch haben sich im Rahmen der strukturalen Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts Autoren wie Ferdinand de Saussure und Noam Chomsky auch auf Humboldt berufen.
 
Gleichwohl hat die Sprachforschung in der sprachanalytischen Philosophie eine qualitativ neue Stufe erreicht, deren Intention sich grundlegend von jenem anfänglichen Interesse an der Sprachphilosophie unterscheidet. Herder und die Philosophie des 18. Jahrhunderts gingen von einem metaphysisch aufgeladenen Humanitätsgedanken aus. Der Mensch als Mensch ragt letztlich aus der physischen Welt heraus und gestaltet durch Kunst und Kultur ein Reich eigener Wirklichkeit, zu der die Natur allein nicht imstande gewesen wäre, zu deren Entstehung sie aber alle Bedingungen bereithält. Die sprachanalytische Philosophie jedoch lässt eine solche Unterscheidung nicht mehr zu, sie würde diese wohl noch als ein Resultat des falschen Sprachgebrauchs entlarven, dessen Irrungen daraus resultierten, dass für eine wissenschaftliche Analyse die Übereinstimmung von logischen Denkformen und grammatischer Ordnung vorausgesetzt wird.
 
Dr. Klaus-Jürgen Grün
 
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 7: 19. Jahrhundert. Positivismus, Historismus, Hermeneutik. Neudruck Stuttgart 1993—98.

Universal-Lexikon. 2012.

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